Yvonne Malak: Die neue Realität

„Das ist die neue Realität. Als Zeitfenster, um Neugier zu wecken, haben wir gerade mal 8 Sekunden.“

Dieses Zitat aus einer Studie des amerikanischen Psychiatrieprofessors Gary Small (gefunden auf Focus Online am 7.7.2017) stammt aus dem letzten Jahrzehnt! Es ist also davon auszugehen, dass die Zeit, die wir einem Inhalt widmen, bis wir entscheiden, ob wir ihn mögen, noch kürzer geworden ist.

Dass die Gen Z einer Sache maximal fünf Sekunden schenkt, bis sie entscheidet, ob sie interessant ist, sehen wir an Pre-Roll-Spots z.B. auf youtube, die man nach vier/fünf Sekunden überspringen kann.

Laut einem Artikel aus „Journalist“ aus dem Frühjahr ´24 (Ausgabe April, S. 10) geben wir einem TikTok Video im Schnitt drei Sekunden, bis wir entscheiden  zwischen „Weiterswipen“ oder „Dranbleiben“.

Wir sind es gewohnt, in kürzester Zeit bestens unterhalten zu werden und auf der Plattform nebenan neuen, noch besseren Content zu bekommen. Wenn man mit einem DAB+ Autoradio durch Berlin fährt, kann man locker 80 Sender empfangen…

Die neue Realität ist das Zeitalter der Aufmerksamkeits-Ökonomie. Wir konkurrieren 24/7 mit zig Radiosendern auf DAB+, und zigtausend Sendern auf Aggregatoren (und natürlich im Internet). Der nächste bessere Song, der nächste bessere Content ist immer direkt nebenan.

Man könnte jetzt sagen: „Das ist eben so. Da kann man nix machen. Radio geht eh den Bach runter“.

Oder man macht es besser…

Man weiß, dass jede On Air Sekunde zählt.

Man ist sich bewusst, dass sich im Jahr 2024 nichts mehr „versendet“

Man versteht, wie Markenaufbau funktioniert (je weniger Merkmale desto erfolgreicher. Mc Donalds wurde groß mit Burger, Pommes, Cola).

Man kennt die Senderimages und die des Wettbewerbs und weiß, was das eigene Produkt braucht und was ihm schadet.

Man sendet demzufolge nichts gegen die Erwartungen der Hörer.

Und vor allem: man versteht, wo die Gefahren liegen. Das sind…

Der falsche Musik-Titel

Das falsche Wort

Ich will an dieser Stelle auf den zweiten Punkt eingehen.

Jeder Content muss sitzen. „Unterhaltung“ ist hier das Kriterium Nummer 1. Nebenan gibt es zig gute Songs zur Auswahl und der eine oder andere Wettbewerber hat sicher besseren Content zu bieten.

Wir sind hier manchmal zu wenig anspruchsvoll. Ich analysiere jedes Jahr hunderte Sendestunden und bin immer noch überrascht, wie einfach wir es uns manchmal machen, z.B. wenn es darum geht, was wir in Morgenshows so auf die Antenne lassen. Oder über die „Bunten Meldungen“ (ein Relikt aus den 80ern und 90ern) in der Moderation, oder die beliebigen, austauschbaren Beiträge von Zulieferern, mit denen einige Sender ganze Programme bestreiten.  

Jeder Einstieg muss sitzen. Denke an die acht bzw. fünf bzw. drei Sekunden, die Konsumenten einem Inhalt geben, um zu entscheiden, ob er sie anspricht.

Es ist anstrengender und arbeitsintensiver, sich einen guten Einstieg zu überlegen, der die Hörer in maximal acht Sekunden (das sind 13 bis 15 Wörter!) neugierig auf das Kommende macht, als sich unüberlegt in ein Thema „reinzuschwurbeln“. Aber das Kreieren des bestmöglichen Einstieges sollte Standard sein. Hand aufs Herz… ist es das immer in „deinem“ Sender?  

Jeder Break ist ein Gesamtkunstwerk. Vom Einstieg über den Spannungsbogen bis zum Ausstieg. Meine häufigste Anmerkung in Airchecks: „Kill your darlings“. In der Mitte verlieren wir unsere Hörer oft. Mit zu vielen Details, „Nebenstraßen“, oder kurz gesagt: Gelaber.

Jeder, der etwas on Air schicken darf – ob Moderator, Producer oder Redakteur – sollte diese Punkte verstehen und sich der Tatsache bewusst sein, dass der nächste bessere Song, der nächste bessere Content immer direkt nebenan auf den Konsumenten wartet.

Klar – wir haben nicht immer die Chance, 24/7 mit erfahrenen Top-Leuten zu arbeiten. Umso wichtiger ist, dass Nachwuchs-Talente das Prinzip von Radio im Jahr 2024 verstehen und sich von seltsamen Glaubenssätzen verabschieden.

Folgende drei Sätze habe ich schon x-mal von jungen Kollegen gehört:
„Aber ich bin doch Moderator. Ich muss doch was erzählen“.

„Aber dann ist der Break doch zu kurz“.

„Aber das ist doch lokal – das interessiert unsere Hörer“.

Ich habe hier schon mal den Vergleich mit Großbritannien gemacht, wo in der Zielgruppe 14-25 Jahre wesentlich mehr Menschen täglich Radio hören (77 Prozent) als bei uns. Der Weekly Cume in dieser Zielgruppe liegt dort bei 89 Prozent!

Das hat viele Gründe. Einer ist aber sicher: das Wort, der Content bei den UK-Sendern ist seltener ein Abschaltfaktor als bei uns…

Diesen Punkt besser zu machen, ist keine Raketen-Wissenschaft. Die Optimierung beginnt mit dem Bewusstsein: der nächste bessere Content ist gleich nebenan und mein Content muss mindestens genauso stark sein.

„Okay“ ist in der Mitte der 2020er Jahre nicht mehr gut genug. Denn wir befinden uns im Zeitalter der Aufmerksamkeitsökonomie.

Viel Erfolg beim Bessermachen!

Deine
Yvonne

Yvonne Malak
Das Moderationshandbuch: Alles, was Radio-Profis wissen müssen
201 Seiten
ISBN 3848782723
39,00 € Nomos

Yvonne Malak ist Radioberaterin und berät eine Vielzahl von Radiostationen in Deutschland, Österreich und der Schweiz. Yvonne Malak schreibt monatlich für die radioWOCHE. Die nächste Ausgabe erscheint am 01. Oktober 2024.

Alle bisher veröffentlichten Publikationen von Yvonne Malak finden Sie auch unter www.my-radio.biz/category/publikationen/radiowoche/

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